Allgemein, Ratgeber
Multiphysik-Simulation verspricht schnellere, fundiertere Entscheidungen. Doch ohne Struktur, Methodik und Kultur bleibt das Potenzial ungenutzt.
31.07.25
Ein Produkt ist niemals nur ein Bauteil. Es ist das Ergebnis vieler physikalischer Phänomene, die gleichzeitig wirken, sich überlagern und gegenseitig bedingen. Mechanik, Thermik, Fluidik, Elektromagnetik – was in der Theorie getrennt betrachtet wird, trifft in der Realität zusammen. Und genau dort entscheidet sich, ob ein Entwurf funktioniert, ob er robust ist, effizient, zuverlässig und serienfähig..
Wo früher ein Materialwert reichte, um eine Komponente auszulegen, braucht es heute ein tiefes Verständnis der physikalischen Wechselwirkungen. Genau an dieser Stelle setzt die Multiphysik-Simulation an. Sie macht sichtbar, was bislang verborgen blieb. Und sie gibt Ingenieuren die Werkzeuge, um Entscheidungen dort zu treffen, wo sie den größten Hebel haben.
Dass Multiphysik-Simulation einen gewaltigen Nutzen entfalten kann, steht außer Frage. Der schnellere Weg zur marktfähigen Innovation, die Absicherung komplexer Funktionszusammenhänge und das frühzeitige Erkennen von Fehlstellen gehören heute zu den überzeugendsten Argumenten für ihren Einsatz. Dennoch ist der Weg in die Praxis kein Selbstläufer.
Die erste große Herausforderung liegt im Verständnis der Disziplin selbst. Multiphysik ist kein Add-on, das sich beliebig einschalten lässt. Wer mechanische, thermische, elektrische und fluiddynamische Phänomene gleichzeitig modellieren will, muss ein konsistentes Simulationsmodell schaffen, das nicht nur in sich stabil ist, sondern auch die reale Produktumgebung korrekt abbildet. Dieses Modell ist kein Zufallsprodukt, sondern Ergebnis gezielter Vorbereitung, validierter Daten und klarer methodischer Standards.
Oft wird übersehen, dass Multiphysik-Simulation eine neue Art des Denkens erfordert. Es geht nicht mehr um Einzeldisziplinen, sondern um vernetzte Systeme. Das stellt höhere Anforderungen an Modellierungskompetenz, Interdisziplinarität und Datenqualität. Unternehmen, die hier zu schnell zu viel wollen, riskieren, die Tragfähigkeit ihrer Simulationsprozesse zu überlasten.
Die zweite Hürde ist struktureller Natur. Simulation darf nicht als reines Expertenwerkzeug verstanden werden, das am Ende der Entwicklung auf Plausibilität prüft. Ihr wahres Potenzial entfaltet sie, wenn sie integraler Bestandteil des Produktentstehungsprozesses ist. Das bedeutet, dass die Simulation bereits in frühen Phasen einspeist, in denen noch grundlegende Entscheidungen getroffen werden.
Doch genau hier liegt das Dilemma vieler Unternehmen. Simulationsdaten liegen auf eigenen Servern, Modelle werden manuell übertragen, der Austausch mit CAD, PDM oder PLM ist brüchig. In der Folge entstehen Inkonsistenzen, Mehraufwand und eine geringe Wiederverwendbarkeit von Modellen. Wer diese Situation überwinden will, muss in durchgängige Datenflüsse investieren und eine Plattformarchitektur schaffen, die Konstruktion, Berechnung und Änderungsmanagement verzahnt.
Multiphysik-Simulation ist keine rein technische Disziplin. Ihre Wirksamkeit hängt entscheidend von den Menschen ab, die sie anwenden. Ingenieure, die in multiphysikalischen Modellen denken, brauchen nicht nur Softwarekompetenz, sondern ein tiefes Systemverständnis. Sie müssen bereit sein, über den Tellerrand ihrer Fachdisziplin hinauszublicken und mit Experten aus anderen Bereichen auf Augenhöhe zu kommunizieren.
Gerade hier offenbaren sich die Grenzen traditioneller Organisationsmodelle. Silodenken, getrennte Teams und lineare Entwicklungsprozesse verhindern die Entfaltung eines interdisziplinären Simulationsverständnisses. Wer Multiphysik erfolgreich einführen will, muss auch eine Kulturveränderung anstoßen. Nicht durch abstrakte Change-Prozesse, sondern durch gezielte Kompetenzentwicklung, durch Rollen, die Verantwortung übergreifend definieren, und durch Teams, die gemeinsam lernen und wachsen dürfen.
Ohne die richtige technologische Basis bleibt jede Simulationsstrategie lückenhaft. Multiphysik erfordert nicht nur hohe Rechenleistung, sondern auch Zugriff auf präzise Materialdaten, parametrische Geometrien und ein Variantenmanagement, das Änderungen automatisch nachverfolgbar macht. Hinzu kommen Anforderungen an Versionierung, Modellvalidierung und Schnittstellenmanagement.
Die Verfügbarkeit dieser Grundlagen entscheidet darüber, ob Multiphysik ein Innovationsmotor oder ein teures Nischenwerkzeug wird. Cloud-basierte Plattformen bieten hier neue Spielräume. Sie ermöglichen nicht nur den Zugriff auf skalierbare Ressourcen, sondern schaffen auch die Grundlage für kollaborative Workflows. Doch auch hier gilt, dass ohne durchdachtes Datenmodell und klare Zugriffsrechte die Cloud zur Blackbox wird.
Die Einführung von Multiphysik-Simulation ist kein Projekt mit Start- und Enddatum. Sie ist ein Weg, der nur gangbar ist, wenn Unternehmen bereit sind, zentrale Fragen zu beantworten. Welche Produkte eignen sich für einen multiphysikalischen Ansatz. Welche physikalischen Domänen sind relevant. Welche Daten liegen bereits vor, welche fehlen noch. Welche Rollen sollen entstehen, welche Prozesse müssen angepasst werden.
Es gibt keinen Königsweg, aber es gibt klare Erfolgsfaktoren. Dazu zählen ein validiertes Simulationsframework, eine eng verzahnte Zusammenarbeit mit der Konstruktion, ein kontinuierlicher Qualifizierungsprozess für Mitarbeiter sowie ein Plattformgedanke, der nicht bei der Software endet, sondern die gesamte Wertschöpfungskette mitdenkt.
Produkte werden intelligenter, Systeme komplexer und Anforderungen höher. Die reine Form wird ergänzt durch Funktion, Kontext und Interaktion. In dieser Welt reicht es nicht mehr, nur einzelne Kräfte zu betrachten. Unternehmen, die das verstehen, werden Simulation nicht als Prüfwerkzeug einsetzen, sondern als Gestaltungsmittel. Multiphysik wird dann nicht länger als aufwendige Disziplin betrachtet, sondern als Wegbereiter für Robustheit, Nachhaltigkeit und Differenzierung.
Was heute noch ambitioniert klingt, ist morgen Standard. Denn die Produkte von morgen werden nicht gebaut, sie werden simuliert, iteriert, verbessert und schließlich produziert. Multiphysik ist dabei kein Ziel, sondern ein Schlüssel. Und dieser Schlüssel passt nur dann, wenn das Schloss richtig vorbereitet wurde.
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